Dieser Mensch hier links im Bild stählt offensichtlich seinen Körper um “ganz seinen Mann stehen zu können” und besser in das klischeehafte Bild vom “starken Mann” zu passen. Man könnte meinen, er versucht sein Geschlecht durch die Produktion von Muskelmasse an seinem Körper sichtbar zu machen. Ein Mann, der seinen Körper nicht derart künstlich aufpumpt, sieht eben nicht so herrlich männlich aus.
Doch irgendetwas irritiert an diesem Bild: Dieser doch so offensichtliche Mann hat gar keine männlichen Geschlechtsteile.
Das liegt daran, dass “er” früher eine Frau war; im allgemeinen Sprachgebrauch heißt das “biologische Frau”. Wie kommt es, dass es möglich ist, erst eine “natürliche Frau” zu sein und im Laufe des Lebens ein “perfekter Mann” zu werden? Solch ein Wandel verunsichert viele, weil er die Annahme untermauert, dass Geschlecht nicht biologisch gegeben oder angeboren ist, sondern gemacht wird. Das bedeutet, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse, also die bestimmenden Regeln und Werte, auf alle Menschen Druck ausüben. Diese werden vermittelt durch Institutionen und Medien und werden im eigenen Zusammenleben alltäglich wiederholt. So verhält es sich auch in der Geschlechterfrage. Schon vor der Geburt wird die Frage gestellt, die alles entscheiden wird: “Ist es ein Junge oder ein Mädchen?” Von dem Moment an, in dem die Antwort darauf “klar” ist, wird das Kind von Eltern, Mit-Kindern, ErzieherInnen und LehrerInnen zu einem Mädchen oder einem Jungen “gemacht”, also “konstruiert”. Dieses ist aber kein rein empfangender Prozess. Diese ordnenden Kategorien werden auch von dieser Person immer wieder reproduziert. Diese Grundeinstellung über Produktion und Reproduktion von Geschlecht ist der Ansatz des (De-)Konstruktivismus. Er geht davon aus, dass Geschlecht sowohl sozial als auch körperlich nicht “natürlich” ist.
Damit geht dieser Ansatz wesentlich weiter als das sexgender-Modell, denn auch in diesem Modell wird von “biologischen” Männern und Frauen ausgegangen. Sozial wird das Geschlecht durch spezifische Kleidung und Verhaltensweisen konstruiert, die das Kind, und der später erwachsene Mensch, annehmen sollen (Jungs sollen frech, Mädchen eher zurückhaltend sein usw.). Damit einher geht eine ständige Selbstdarstellung als Junge oder Mädchen, Frau oder Mann. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber diese bestätigen ja bekanntlich die Regel. Der auf dem Bild zu sehende Mensch zeigt, dass selbst dem Körper kein natürliches, biologisches Geschlecht innewohnt. Erst durch die sozialen und kulturellen Ideale werden die Körper gemacht. Sie erwecken den Eindruck des Natürlichen. In der ständigen Wiederholung von Körperkorrekturen wie dem Einsetzen von Brustimplantaten oder dem Aufpumpen von Muskelmasse werden Körperausprägungen im Laufe des Lebens immer wieder “naturalisiert”. Noch deutlicher wird dieser Prozess bei den Menschen, die mit uneindeutigen “Geschlechtsmerkmalen” geboren werden. Sie passen nicht in das Bild der zwei sich ausschließenden Geschlechter, deshalb werden diese Menschen brutal verstümmelt. Im Laufe des Lebens müssen diese operativen Eingriffe immer wieder schmerzhaft korrigiert werden. Damit wird ihnen eine freie Entscheidung über ihren Körper und die Möglichkeit zu sexuell lustvollen Erfahrungen genommen. Den Menschen, die mit uneindeutigen “Geschlechtsmerkmalen” geboren werden, wird ein bestimmtes und damit bestimmendes Leben aufgezwungen.s L
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Diese Menschen sind also ganz “natürlicherweise” ein drittes, viertes, oder was auch immer Geschlecht. Wie können demnach noch “Geschlechtsteile” für “männlich” oder “weiblich” stehen? Wie bezeichnen wir eine Person mit “Geschlechtsmerkmalen”, die halb “männlich”, halb “weiblich” sind? Der Mensch hier auf dem Bild hat weibliche “Geschlechtsteile”, sieht ansonsten aber aus wie ein Mann. Kann “weibliches Geschlechtsteil” dann noch für “Frau” stehen? Wie bezeichnen wir diese Person, die sich optisch dem entgegengesetzten Geschlecht durch Hormone und Operationen annähert, bis ein “perfekt männlicher” Körper geschmiedet wurde, die Genitalien aber nicht verändert wurden? Und welches Geschlecht besaß dieser Mensch vorher, als er sich im “falschen Körper” geboren fühlte? Wie verhält es sich hier mit den sexuellen Beziehungen dieser Person? Ist sie lesbisch, wenn sie sich jetzt zu “Frauen” hingezogen fühlt oder doch hetero? Es wird deutlich, Geschlecht und Geschlechterverhältnisse lassen sich nicht so einfach einteilen, wie es immer scheint. Wenn es so offensichtlich wäre, ob nun jemand eine “Frau” oder ein “Mann” ist, müsste man das ja nicht immer wieder durch z.B. Äußerlichkeiten betonen. Es scheint sinnvoller, nicht nur von zwei Geschlechtern auszugehen, sondern von einer Vielzahl von Möglichkeiten. In mehreren anderen Bevölkerungsgruppen auf der Welt ist das seit jeher der Fall: Die “Geschworenen Jungfrauen” in Albanien zum Beispiel, die als kettenrauchende Patriarchen über ihre Familien herrschen und ihre Männlichkeit in blutigen Fehden unter Beweis stellen, in unserem Geschlechtersystem aber als Frauen gelten würden. Wie kommt es, dass die westliche Welt nur von zwei Geschlechtern ausgeht? Wir leben in einem Wertesystem, dass generell von bipolaren, also von zwei gegensätzlichen, Strukturen ausgeht: Mann – Frau, Natur – Kultur, Körper – Geist, Heterosexuell – Homosexuell, usw.
Davon ist immer eines das Höhergestellte – es geht also um Hierarchienbildung und Herrschaftsverhältnisse und gleichzeitig um deren Verschleierung. Die Ausprägung dieses bipolaren Wertesystems, die hier beschrieben ist, also Mann – Frau, ist folglich grundlegend für das Patriarchat und dessen Aufrechterhaltung. Die ihm innewohnenden Mechanismen sind Grundlage zur Unterdrückung jeweils der Hälfte der Personen in patriarchalen Gesellschaften. Um die geschlechtliche Unterdrückung langfristig überwinden zu können ist es wichtig, dass alle Möglichkeiten von “Geschlecht” und “geschlechtlichen” Ausdrucksformen anerkannt werden. “Geschlecht” dürfte nicht mehr als “in-zwei-Pole aufgeteilt” gesehen werden gesehen werden, sondern als Kontinuum. Ein Kontinuum bedeutet in diesem Fall, dass “geschlechtliche Ausprägungen” als fließende Übergänge gesehen werden und nicht mehr als zwei starre Kategorien. Solch ein Kontinuum stellt zur Zeit noch eine Utopie dar, es müsste sich aber langfristig in das Bewusstsein einschleichen. Hierbei ist besonders wichtig zu bedenken, dass dieses Gedankenmodell alleine auch nicht die Lösung sein kann, schließlich sind Gewaltverhältnisse gegen Frauen real und müssen ins Wanken gebracht werden. So kann die alleinige Politik der queer-communities, die durch ihre Identität bewusst oder unbewusst das zweigeschlechtliche System irritieren, in unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation nicht funktionieren. Frauenbezogene Politik und Projekte wie Frauenhäuser, Lesbentelefone usw. sind durch das gewaltförmige patriarchale Verhältnis gegen Frauen genauso nötig wie die Erkenntnis, dass das System der Zweigeschlechtlichkeit und die damit einhergehende Zwangsheterosexualität eine Basis des Patriarchats darstellen.
Wie definieren wir Menschen, deren Identität oder soziale Rolle nicht ihrem biologischen Geschlecht entspricht? Weibliche Ehemänner in Afrika zum Beispiel, die so viele junge Frauen heiraten können, wie ihr Wohlstand zulässt? Wie bezeichnet man Personen,, die ihren Körper so weit manipulieren, dass sie sich optisch dem entgegengesetzten Geschlecht annähern, wie die brasilianischen “travestis”, die sich mit Hilfe von Hormonen und Silikon einen perfekten weiblichen Körper schmieden, aber niemals eine Entfernung der männlichen Genitalien in Erwägung ziehen würden? Welches Geschlecht besitzen Menschen, die sich im weiblichen Körper geboren fühlen? In welchem Stadium einer möglichen Geschlechtsumwandlung sind sie Männer oder Frauen und wie teilen wir ihre sexuellen Beziehungen ein?
Ist ein erotischer Akt zwischen einer Frau und einer nicht-operierten Mann-zu-Frau-Transsexuellen eine lesbische oder eine heterosexuelle Handlung?
Ist ein Inuit-Mädchen, das von den Eltern anstelle eines fehlenden Sohnes als Junge erzogen wird und später eine Männerrolle einnimmt, sozial ein Mann oder eine Frau in einem Männerberuf? Wir sehen, Geschlecht ist ein unsicheres Konzept mit schillernden Grenzen, die an ihren Rändern beständig zu verwischen scheinen.
Quelle:
“Kleine Reiseführerin durch den Geschlechterdschungel!”
Toller Post. Würde gern mehr Artikel zu dem Thema lesen. Ich freue mich schon auf die naechsten Posts.